Es war eine Meldung, die in der Öffentlichkeit kurz zur Kenntnis genommen wurde, aber keine hohen Wellen warf: In der Justizvollzugsanstalt Witzwil in der Seeländer Gemeinde Gampelen sei ein 39-jähriger Häftling tot in seiner Zelle gefunden worden, teilte die Berner Kantonspolizei am Stephanstag 2023 mit. Hinweise auf Dritteinwirkung gebe es nicht.
Wie üblich in solchen Fällen kommunizierten die Behörden später nicht mehr, woran die Person gestorben ist. Eine Verfügung der Berner Staatsanwaltschaft, die der Today-Redaktion vorliegt, schafft Klarheit: Es war eine Überdosis Kokain, die den Nordmazedonier M. das Leben gekostet hat. In der Verfügung steht, in der Zelle seien ein Papierröhrchen sowie Rückstände eines weissen Pulvers festgestellt worden – offensichtlich Kokain. M. habe einen grossen rosafarbenen Schaumpilz vor dem Mund gehabt, als er am 26. Dezember morgens kurz vor 6 Uhr vom Sicherheitsdienst entdeckt wurde.
Eine Überdosis brachte ihn um
Zur Feststellung der genauen Todesursache wurde eine Obduktion angeordnet und vorgenommen. Sie ergab, dass Häftling M. an einer Herzschwäche und an Bluthochdruck litt. Todesursache war aber eine tödliche Konzentration Kokain im Blut. Da niemand anderes in der Zelle war, ist klar, dass sich M. die tödliche Dosis selber zugeführt hat. Offen bleibe, ob sich der Mann das Kokain mit Suizid-Absicht durch die Nase zog oder ob es sich um einen Unfall handelte. Die Angestellten der Justizvollzugsanstalt hätten keine Schuld am Tod des Häftlings, so die Berner Staatsanwaltschaft.
Doch wie konnte eine derartige Menge Drogen in die Zelle von M. gelangen? Das fragt sich die Witwe des Häftlings. Zumal sie feststellen musste, dass sie die Drogen indirekt finanziert hatte: Ihr Ehemann hatte ein Handy in der Zelle und Zugriff auf ihr Twint-Konto. Damit kaufte er offenbar die tödliche Dosis Kokain im Wert von 400 Franken.
Drogen gehören im Gefängnis zum Alltag
Anfrage beim Berner Amt für Justizvollzug: Wie kann es sein, dass sich jemand im Gefängnis mit Drogen töten kann? «Der Strafvollzug ist ein Spiegelbild der Gesellschaft», sagt Balz Bütikofer, Direktor der Justizvollzugsanstalt (JVA) Witzwil. Es komme leider immer wieder vor, dass sich Häftlinge Drogen beschafften. Ein Grossteil der Insassen in Witzwil habe eine entsprechende Vorgeschichte. Zudem ist Witzwil eine JVA mit offenem Vollzug, sprich: Die Mehrheit der Häftlinge sei ausgangs- und urlaubsberechtigt. Die Männer sollen aufs Leben nach dem Gefängnis vorbereitet werden.
Diese Urlaube würden oft genutzt, um Drogen und andere verbotene Gegenstände ins Gefängnis zu schmuggeln. Oder es würden Depots ausserhalb der Anstalt angelegt. Auch Eintrittskontrollen oder Leibesvisitationen, zum Beispiel mit Drogenspürhunden, könnten den Schmuggel nicht vollständig verhindern. «Die Bemühungen gleichen einem Kampf gegen Windmühlen», so Bütikofer. Die Kontrollen seien seit dem Todesfall am Stephanstag nicht verschärft worden.
M. hatte allerdings vor Weihnachten keinen Ausgang, ein solcher wäre gemäss Aussagen seiner Witwe erst für die Zeit nach Weihnachten vorgesehen gewesen. Wie kam also das Kokain in seine Zelle?
Vor Weihnachten per Handy Drogen beschafft
Eigentlich sind auch Handys in Witzwil laut Direktor Bütikofer verboten. Sie werden beim Eintritt eingezogen. Screenshots, die der Today-Redaktion vorliegen, zeigen jedoch, dass M. in seiner Zelle über ein internetfähiges Mobiltelefon verfügt haben muss. Davon zeugen Video-Anrufe und Whatsapp-Nachrichten an seine Frau, manche mitten in der Nacht, andere tagsüber.
Die Ehefrau hat M. ein Handy ins Gefängnis gebracht, kontrolliert worden sei sie bei ihren Besuchen nie. Deponiert habe er das Gerät in der Deckenlampe seiner Zelle. Nach seinem Tod wurde es dort gefunden.
Die Drogen hat M. kurz vor Weihnachten beschafft, mithilfe des Twint-Kontos und der Bankkarte seiner Frau. Als sie bemerkte, dass auf ihrem Bankkonto 400 Franken fehlten, log er, dass er damit Flugtickets für seine Familie gekauft habe. In Tat und Wahrheit investierte er das Geld in Drogen – die ihn schliesslich das Leben kosten sollten.
Witwe will Aufklärung
Die Witwe des verstorbenen Häftlings M. fühlt sich allein gelassen – und angelogen. Nach dem Tod sei ihr gesagt worden, ihr Mann habe einen schönen Tod gehabt, er sei ruhig eingeschlafen. Der rosarote Schaum vor dem Mund spricht aus ihrer Sicht gegen diese Version der Gefängnisdirektion. Sie möchte eine Entschuldigung, damit sie abschliessen und zur Ruhe kommen kann.
Die vierfache Mutter weiss, dass ihr Mann kein Unschuldslamm war. M. hatte das Sozialamt betrogen und mit Drogen gehandelt. Zunächst war er in Solothurn in Untersuchungshaft, bevor er in den offenen Vollzug ins bernische Witzwil verlegt wurde. Im Februar 2024 hätte er aus der Haft entlassen und in seine nordmazedonische Heimat ausgeschafft werden sollen.
Was passierte am Weihnachtsabend?
Eine merkwürdige Nebengeschichte dreht sich um den Vorabend des Todesfalls, den Weihnachtsabend, an dem die Gefängnisinsassen in Witzwil ein Raclette assen. Am nächsten Morgen war M. tot.
Unter dem Artikel auf dem Newsportal Watson, in dem der Tod des Häftlings vermeldet wurde, schrieb eine unbekannte Person tags darauf einen höhnischen Kommentar: «Ich habe heute Abend Raclette gegessen und ihr?»
Die Witwe hat einen Verdacht, wer der Verfasser sein könnte – nachweisen kann sie aber niemandem etwas. Was der User mit dem Kommentar bezweckte, ob er gar mit dem tödlich ausgegangenen Drogendeal etwas zu tun hat? Die Frage bleibt offen.
Witwe ist auf Spenden angewiesen
Die Witwe lebt mit ihren vier Kindern in Grenchen, am Existenzminimum. Es drücken Schulden, die ihr der verstorbene Ehemann hinterlassen hat. Weil die Ausschaffung bevorstand, wurden zudem bereits Möbel und andere Habseligkeiten verkauft, die sie nun wieder beschaffen muss. Kolleginnen versuchen, ihr zu helfen.
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