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Retreats am Beatenberg: 81-jähriger Meditations-Guru aus Bern über 11-Stunden-Tage

Meditationszentrum Beatenberg

11-Stunden-Arbeitstage als 81-Jähriger: Interview mit Meditationslehrer Fred von Allmen

· Online seit 15.09.2024, 15:31 Uhr
Achtsamkeit, Meditation, Auszeit: In den vergangenen 10 Jahren hat sich um diese Schlagworte ein immer regelrechter Hype entwickelt. In der Schweiz kennt sich kaum jemand besser damit aus als Fred von Allmen. Der 81-jährige Berner leitet seit rund 40 Jahren Meditationskurse und Retreats. Im grossen Interview klärt er über Mythen, Vorteile der Meditation und wichtige Unterschiede auf.
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Today: Sie waren erst kürzlich in einem 14-Tage-Retreat im Meditationszentrum Beatenberg. Wie geht es Ihnen jetzt?

Fred von Allmen: Ich habe den Retreat geleitet, das ist völlig anders, als an einem Retreat teilzunehmen. Ein Retreat zu leiten, ist ein 11-Stunden-Job. Wir machen Anleitungen, Einzelgespräche, Gruppengespräche, Abendvorträge – wir sind durchs Band hindurch voll beschäftigt.

Braucht man danach nicht schon fast Ferien?

Ich bin jetzt 81 Jahre alt. Seit einigen Jahren brauche ich da jeweils ein paar Tage, um mich zu erholen.

Sie meditieren seit rund 50 Jahren. Wie äussert sich das bei Ihnen im Alltag?

Vor kurzem bin ich gestürzt, das war körperlich ziemlich dramatisch. Zuerst war ich ziemlich erschlagen, danach war es aber schnell okay. Ich habe mir gedacht: «Das ist etwas, das einem passieren kann, vor allem in meinem Alter. Und ich bin auch selber schuld daran.» Es passiert immer noch das, was einem im Leben passiert – aber es ist kaum noch ein Problem. So wird das Leben unbeschwerter.

Was ist eigentlich das Ziel von Meditation?

Meditation hat schon immer viele verschiedene Sachen bedeutet. Heute bezieht sich Meditation hauptsächlich auf Stressreduktion und Wellness und wird oft in Psychotherapie eingebaut. Das kann sehr hilfreich sein. Wir machen die buddhistische Meditationspraxis. Ich betone das aktuell wieder mehr, um das klar abzugrenzen.

Was bedeutet das konkret?

Der Buddha hat die ganze Lehre in drei Sätzen zusammengefasst. Das Unheilsame und Schädliche vermeiden, das Gute kultivieren und den Geist befreien. Das klingt so einfach, aber es ist ein grosser Job. Es liegt daran, dass wir uns stark mit unseren Gefühlen identifizieren. Dabei schaffen wir uns ständig Leiden. Das kann Frustration sein oder Stress, alle Formen von Verlangen, Sehnsucht, Ärger, Wut, Neid, Geiz – all das macht das Leben mühsam. Aber das merken wir nicht, weil es so selbstverständlich ist. Das muss aber gar nicht sein. Wir könnten eigentlich unendlich viel freier sein. Die Gewohnheit ist aber wahnsinnig tief. Das kann man nicht mit einem drei- oder 14-tägigen Kurs verändern. Es ist eine lebenslange Praxis, die innerlich freier macht. Man könnte sagen, dass man lernt herauszufinden, was einen wirklich zufrieden, frei und glücklich macht – und was nicht.

Was bedeutet die buddhistische Meditation für Sie persönlich?

Ich sehe, dass die Menschen wirklich merken, dass ihnen die buddhistische Meditation etwas bringt, wie sich ihr Leben verändert. Sie werden unkomplizierter, fröhlicher, unbeschwerter, liebevoller, mitfühlender. Es macht einen grossen Unterschied. Das inspiriert mich immer wieder. Sehr oft bekomme ich da etwas zurück, obwohl es nicht wegen mir, sondern durch diese Praxis geschieht.

Wie sind Sie überhaupt zum Meditieren gekommen?

Ende der 1960er-Jahre habe ich mit Psychedelika experimentiert. Dabei ist das passiert, was auch bei der Meditation passieren kann – die Wahrnehmung verändert sich und man erfährt sich selbst auf eine neue Weise. Und ich habe schon immer Freiheit gesucht – früher besonders äusserlich, etwa durch meinen Beruf als Fotograf. Ich hatte das Gefühl, dass die Freiheit dort liegt und dass ich sie dort suchen muss. In Indien, am Himalaya-Fuss, begann ich zu erkennen, dass die wahre freiheit im Inneren liegt. Das war für einen 25-Jährigen sehr spannend. Dort habe ich mich auch sehr schnell zu Hause gefühlt.

Wann und wo haben Sie zum ersten Mal meditiert?

Das erste Mal meditiert habe ich in Indien in Dharamsala, nachdem ich zum tibetischen Lama Geshe Rabten kam. Er hat mir Anleitungen gegeben und ich habe gefragt, wie viel man meditieren sollte. Geshe Rabten sagte mir, eine Stunde zum Anfang sei schon gut. Ich habe nicht einmal eine Viertelstunde geschafft. Und dann der erste 10-Tage-Kurs, das war fast nicht zum Aushalte, aber dort habe ich es schliesslich gelernt.

Ist heute so ein Weg zur Meditation überhaupt noch möglich – also in ein fremdes Land zu reisen und es dort zu lernen?

Ganz so romantisch gibt es das wohl nicht mehr. Diese Orte sind jetzt oft überlaufen. Dharamsala beispielsweise ist mittlerweile ein Touristenort.

Wie verbreitet war die Meditationspraxis früher in der Schweiz? Und wie ist daraus vor rund 24 Jahren das Meditationszentrum Beatenberg entstanden?

Bevor ich in den 1980er-Jahren für drei Jahre in die USA gegangen bin, haben einige Leute hier in Bern einen Verein gegründet. Für diese Meditationskurse hat man damals auch Meister aus Asien eingeladen, das waren dann Kurse mit so 15 bis 20 Personen. Meine Frau, Ursula Flückiger, war Anfang der 80er-Jahre in einem Kloster in England und wurde bei ihrer Rückkehr dann Sekretärin dieser Dhamma-Gruppe Schweiz.

Wir haben dann weiterhin Kurse organisiert, mit Meistern aus Asien, Amerika und England. In der Schweiz gab es damals noch keine. Und wir haben etwa 130 Retreats in gemieteten Ferienhäusern organisiert. In den 90er-Jahren waren wir bei bis zu 80 Personen pro Kurs. Das war die Grundlage, dass wir überhaupt so ein Zentrum aufbauen konnten. Das hat nur funktioniert, weil wir schon so etabliert waren und es viele Personen gab, die das Zentrum haben wollten. Dadurch konnten wir in den ersten Jahren schon die wichtigsten Lehrerinnen und Lehrer aus unserer Tradition einladen – das hat uns einen guten Start gegeben.

Es gab in den letzten Jahren einen regelrechten Boom an Meditation, Achtsamkeit und Stille. Wie haben Sie das erlebt?

Der amerikanische Professor Jon Kabat-Zinn hat bereits in den späten 70er-Jahren festgestellt, dass Personen, die in der Meditation geschult werden, besser mit ihren Problemen, auch körperlichen Symptomen, umgehen können. Dabei hat er buddhistische Elemente vermieden. Dieses Format an sogenannten MBSR-Kursen hat sich rasend verbreitet. Auch die Wissenschaft hat sich vermehrt mit diesem Thema beschäftigt, etwa durch MRI, und auch so hat man mitbekommen, dass Meditation gut für die Menschen ist. Das hat in den Nullerjahren den Boom ausgelöst.

Firmen haben es für ihre Mitarbeitenden eingesetzt, die amerikanische Armee hat die Kurse übernommen und auch an Schulen wollte man es einführen. Das war ein enormer Hype. Mittlerweile ist es hauptsächlich für Menschen, die glauben, dass es ihnen guttut. Das finde ich auch sinnvoll, aber es ist nicht das, was wir anbieten. Durch diese Überlappung können viele Menschen das nicht unterscheiden.

Hat auch diese Meditation ohne Religion für Sie Platz? Oder muss es zwingend etwas mit Buddhismus zu tun haben?

Es hat absolut Platz. Es ist einfach eine völlig andere Praxis und verfolgt einen anderen Zweck. Und das wird alles vermischt. Und so kommen Leute zu uns mit falschen Vorstellungen – die vielleicht auch nicht bereit sind, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. In unserer Tradition wird auf Spendenbasis gearbeitet, das ist kein Business. Der Achtsamkeits-Boom ist aber meist Business – und teilweise finanziell sehr «anspruchsvoll».

Würden Sie allen Menschen Meditation und solche Retreats empfehlen, oder gibt es auch Fälle, wo es keine gute Idee ist?

Das würde ich nicht allen empfehlen. Es können zum Beispiel Traumata aus der Kindheit oder Missbrauchstraumata hochkommen, denen man sich gar nicht bewusst war. In einem solchen Fall muss man mit Therapie arbeiten – das ist nicht unsere Funktion oder unser Job. Bei der Meditation passiert zwar sehr viel Selbsttherapie, aber die ist nicht sehr effektiv. Bei einer Therapie hat man einen Profi.

Es gibt ja verschiedene Regeln bei solchen Retreats. Womit haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer die grössten Probleme?

Wir haben Verhaltensregeln: Nicht töten, nichts nehmen, das einem nicht gegeben wurde oder keine sexuellen Annäherungen machen. Das ist meistens kein Problem. Das Handy ist aber ein Problem. Wir sagen entweder abstellen, versorgen oder gar nicht mitnehmen. Es gibt immer mal eine oder zwei Personen, die das nicht können. Manchmal machen sie es ziemlich auffällig, dann sagen wir etwas. Heute ist das eine Sucht.

Das Angebot des Meditationszentrums Beatenberg hat sich in den letzten Jahren verändert. Seit der Pandemie gibt es zum Beispiel Livestreams. Wie war diese Umstellung?

Im März ist die Pandemie ausgebrochen und im April hatte ich meinen jährlichen Osterkurs. Zuerst hatte ich keine Ahnung, wie man das über Zoom macht. Doch es wurde dann zum grössten Kurs, den ich je gegeben habe. Über die Pandemie sind wir dann damit weitergefahren. Seither haben ich, meine Frau und weitere Kolleginnen und Kollegen die Idee weitergezogen, damit Leute auch die Möglichkeit haben, über Zoom an Retreats teilzunehmen.

Die ersten Jahre haben wir noch gesagt, dass man das durchziehen muss – als wäre man vor Ort am Retreat. Mittlerweile sagen wir aber, dass es auch okay ist, wenn man arbeiten geht und nur morgens und abends teilnehmen kann – man stört ja niemanden. Für die Livestreams gibt es viel Begeisterung.

Ist das jetzt ein neues Standbein für das Zentrum?

Finanziell überhaupt nicht. Das kostet im Moment 28 Franken pro Tag. Das ist für uns nicht einmal deckend. Das ist aber auch nicht so wichtig. Es sind die Retreats im Zentrum welche die Kosten decken und als Stiftung haben wir auch Gönnerinnen und Gönner, die jedes Jahr freiwillig spenden. Ab und zu erhalten wir auch eine grosse Spende.

Bisher hat das gut funktioniert und wir haben gute Reserven. Es gibt aber auch immer wieder grosse Investitionen – wir haben ein neues Dach und sind daran, das ganze Dach mit Solarzellen auszubauen und wir mussten alle Fenster ersetzen. Wir zahlen aber auch keine Lehrerlöhne, die Lehrenden leben auf Spendenbasis.

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Kann man denn von Spenden leben? Im Westen ist diese Praxis ja nicht besonders geläufig.

Wir geben uns sehr viel Mühe, zu erklären, dass Grosszügigkeit ein wesentlicher Teil der Praxis ist – und nicht nur Grosszügigkeit gegenüber den Lehrenden. Ich konnte fast ohne Geld leben. Meinen Job als Fotograf habe ich nach 10 Jahren beendet, meine Karriere hätte da gerade richtig begonnen. Bis ich das erste Buch veröffentlicht habe, konnte ich von den Spenden leben, aber nur, weil ich fast nichts gebraucht habe. Ich habe da Kurse gegeben mit so 15 bis 20 Leuten. Nach meinem ersten Buch sind meine Kurse dann sofort grösser geworden auf 40 bis 60 Personen. Dann geht es gut.

Sie sind über 80 Jahre alt und arbeiten immer noch, leiten zum Beispiel Retreats. Warum überhaupt?

Es gibt dem Leben Sinn und ich mache es gerne. Früher habe ich in Indien, Amerika, Schweden, England, Deutschland, Italien und Israel Kurse gegeben – das fällt jetzt alles weg. Die letzten Kurse in Deutschland habe ich 2019 gegeben. Jetzt gebe ich die Kurse in Beatenberg, in der Nähe von Bern, in Basel, in Zürich und Abendvorträge im Zentrum für Buddhismus in Bern.

Wie viel meditieren Sie aktuell noch selbst?

Eine Stunde morgens und 40 Minuten am Abend. Und manchmal mache ich noch einen Retreat.

Gibt es irgendwelche Mythen über Meditation, welche Sie immer wieder hören?

Viele Leute haben das Gefühl – inklusive mir damals – dass das schnell geht. Man macht einen Kurs und dann «hat man es» oder nach einem Monat auf dem Beatenberg ist man erleuchtet – ohne genau zu wissen, was das denn eigentlich sein soll. Hier gibt es schon noch komische Vorstellungen. Wenn man will, dass es nützt, sollte man die Praxis unbedingt in den Alltag mitnehmen. Es ist anspruchsvoll, aber es lohnt sich. Wenn man dann drin ist, merkt man: «Oh wow, das bringt und verändert etwas.» Auch wenn man es gerne schneller hätte.

veröffentlicht: 15. September 2024 15:31
aktualisiert: 15. September 2024 15:31
Quelle: BärnToday

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