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Kanton Bern

Wenn Geld knapp wird: Berner Schuldenberatung ist stark ausgelastet

Viele Anfragen

«Wir können die Lage nicht stemmen»: Berner Schuldenberatung am Anschlag

19.10.2023, 10:27 Uhr
· Online seit 29.09.2023, 05:43 Uhr
Seit über einem Jahr wird die Berner Schuldenberatung mit Anfragen überrannt. Um alle stemmen zu können, fehlen die personellen Mittel, sagt Co-Leiterin Noémie Zurn-Vulliamoz. Auch durch die diese Woche bekanntgewordene starke Erhöhung der Krankenkassenprämien sei damit zu rechnen, dass mehr Leute in die Überschuldung rutschen.
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BärnToday: Es wurde nun eine Erhöhung der Krankenkassenprämien für 2024 kommuniziert, auch die Autoversicherungsprämien sollen steigen. Was bedeutet das betreffend Schulden?

Noémie Zurn-Vulliamoz, Co-Leiterin Berner Schuldenberatung: Es ist sehr gefährlich, denn es handelt sich dabei um viel Geld. Mieten, Strom, Nebenkosten und Treibstoff – überall sind die Preise gestiegen. Einige Familien hatten schon davor ein enges Budget und die können das nicht mehr tragen, zumal unsere Löhne nicht entsprechend angepasst wurden.

Je enger die Budgets werden, desto grösser wird auch die Gefahr, dass es zu einer Überschuldung kommt. Bei einer vierköpfigen Familie mit geringem Einkommen kann auch die Prämienverbilligung das nicht mehr auffangen. Da kann man sich Mühe geben, wie man will, aber es reicht einfach nicht. Wir würden es begrüssen, wenn die Politik für die Haushalte Lösungen finden kann, die durch diese Teuerungskosten arg in Bedrängnis kommen.

Was passiert, wenn man die Prämien nicht mehr bezahlen kann?

Die Leute wissen eigentlich, was passiert, wenn man den Strom oder die Miete nicht mehr bezahlt. Bei den Krankenkassenprämien wissen aber viele nicht, was das für Folgen hat – das sind ganz dumme Schulden.

Wenn man im Kanton Bern die Prämien nicht mehr zahlen kann, gibt es zum Glück keine schwarze Liste und damit auch keinen Leistungsstopp. Aber diese Prämienschulden werden bei Pfändungen privilegiert behandelt und müssen immer zu 100 Prozent bezahlt werden. Auch bei Schuldenregelungen kann man bei Krankenkassen nichts herunterhandeln.

Haben Sie in den vergangenen Jahren eine erhöhte Nachfrage bei der Schuldenberatung gespürt?

Die Pandemie hat viele Leute in eine Schockstarre versetzt, da man auch nicht abschätzen konnte, wie lange es dauern wird. Die Menschen haben erst Hilfe gesucht, als sie gemerkt haben, dass sie selbst nicht mehr aus den Schulden heraus kommen. Während dieser Schockstarre hat sich fast niemand gemeldet, doch seit Anfang 2022 bemerken wir eine starke Zunahme von Ratsuchenden.

Die Leute suchen zuerst immer selbst nach Lösungen, was einerseits verständlich ist, aber oft nicht gut endet. Manchmal sind diese Lösungen nicht die besten oder die Situation verschlimmert sich so, dass es schwieriger ist, einen Ausweg zu finden.

Wie geht die Berner Schuldenberatung mit dem Andrang um? Mussten Sie aufstocken?

Nein, wir können es nicht stemmen. Drei Viertel von unserem Einkommen kommt vom Kanton Bern. Doch die Sparrunde hat auch uns getroffen. Wir mussten sogar Stellen abbauen, obwohl wir eine riesige Nachfrage hätten. Aber um die Nachfrage an Schuldenberatungen zu decken, bräuchte es wesentlich mehr Stellenprozente.

Wir arbeiten jetzt mehr über Telefonberatung, da wir nicht alle einladen können. So können wir die Leute informieren, was sie unternehmen können, damit es nicht unnötig schlimmer wird. Bei unseren Telefonberatungen haben wir jetzt auch eine Warteliste für Rückruftermine.

Was sind die Unterschiede zwischen Schulden und Überschuldung?

Schulden haben wir eigentlich alle, zum Beispiel in Form von Hypothekarzinsen. Eine Überschuldung ist, wenn man die Schulden nicht in nützlicher Frist mit eigenen Mitteln abzahlen kann. Es gibt Leute, die es selbst regeln wollen, zum Beispiel mit einem Konsumkredit. Wir empfehlen den Leuten aber, nicht umzuschulden – das ist immer teures Geld.

Bei einer Einkommenspfändung wird das Existenzminimum berechnet. Teilweise werden die Mieten nicht eingerechnet, sodass man diese erst recht nicht bezahlen kann und sich automatisch weiter verschuldet. Im Existenzminimum werden die laufenden Steuern nicht eingerechnet und können deshalb während der Pfändung auch nicht bezahlt werden. So verschuldet man sich automatisch weiter, die Steuern müssen dann auch wieder betrieben werden – es ist ein Teufelskreis.

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Was für Auswirkungen hat eine solche Überschuldung auf die Menschen?

Sie können nicht mehr am sozialen Leben teilnehmen. Ein Feierabendbier mit Kollegen liegt da vielleicht nicht mehr drin oder ein Schullager der Kinder wird zu einer grossen Belastung. So eine Belastung schlägt auch oft auf die Gesundheit bis zum Punkt, wo man vielleicht nicht mehr arbeitsfähig ist. Eine solche Situation nahe am Existenzminimum hört nicht von selber auf.

Es ist auch ein grosser Aufwand für die Leute: Laufend dem Betreibungsamt Belege schicken, damit nichts passiert und das Wissen, dass man sich laufend neu verschuldet, etwa bei den Steuern. Da kann es schnell passieren, dass man zusätzliche Schulden macht, die sonst nicht sein müssten. Es ist nicht schön, mit sehr wenig Geld leben zu müssen.

Mit welchen Kosten haben Leute am meisten Probleme?

Die allermeisten haben statistisch gesehen Steuerschulden. Da muss man bedenken, dass dabei Leute mit einem B-Ausweis wegen der Quellsteuer wegfallen. An zweiter Stelle kommen die Schulden durch Krankenkassenprämien, da das auch happige Beträge sind. Auch verbreitet sind sogenannte Konsumschulden, etwa durch Konsumkredite, Kreditkartenschulden und teilweise auch Leasingverträge.

Was ist Ihr Rat für Menschen, die sich jetzt Sorgen machen, dass es bald finanziell nicht mehr reicht?

Was ganz wichtig ist und woran viele nicht denken: Unbedingt die Steuererklärung ausfüllen. Erstens ist die Ermessensveranlagung, welche die Steuerverwaltung selber machen müsste, immer höher und zweitens erhält man automatisch eine Prämienverbilligung, wenn anhand der Steuerdaten feststeht, dass man zu wenig Geld hat.

Man sollte auch alle Ansprüche, die man hätte, geltend machen. Wenn man etwa eine Rente bezieht, sollte man prüfen, ob man Anrecht auf Ergänzungsleistungen hätte. Wenn das laufende Einkommen überhaupt nicht mehr reicht, kann man vielleicht ergänzend durch den Sozialdienst unterstützt werden. Falls dann aber eine grössere Rechnung kommt, kann man vielleicht irgendwo, etwa bei einer kirchlichen Stelle, einen «Zustupf» erhalten. So kann man dieses einzelne Problem lösen und beseitigen.

In einigen Fällen, wenn Leute etwa Alimente zahlen müssen, bei denen das gar nicht drin liegt, müssen wir sagen: «Leider sind Sie in einer Phase, in der Sie mit Schulden leben müssen.» Wenn eine Überbelastung des Budgets – etwa die Alimentepflicht – nicht mehr da ist, oder man mehr Einkommen hat, kann man die Schulden regeln.

veröffentlicht: 29. September 2023 05:43
aktualisiert: 19. Oktober 2023 10:27
Quelle: BärnToday

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